Trauma - das Geschenk in der Wunde entdecken
Trauma ist für mich ein faszinierendes Phänomen, das ich in den vergangenen Jahren theoretisch und praktisch erforschen durfte. Wie Dr. Keith Witt beschreibt ist Trauma unvermeidbar und muss sogar jedem Menschen widerfahren. Aber zunächst einmal, was verstehen wir unter Trauma und warum ist das so, dass wir es für unsere Entwicklung sogar brauchen?
Was ist Trauma
Trauma ist eine Erfahrung die Stress in uns ausgelöst hat und die nicht wieder in einen zufriedenstellenden oder friedvollen Zustand aufgelöst wurde. Trauma beeinflusst unser Wohlbefinden, unsere Handlungen, unsere Entwicklung, unsere Beziehungen, es wirkt in alle Lebensfelder hinein. Trauma ist unvermeidbar. Warum? Weil wir für unsere Entwicklung Stress benötigen um stärker und widerstandsfähiger zu werden. Es ist ähnlich wie beim Körpertraining, wir müssen an unsere Grenzen gehen um besser zu werden. Oder auf psychologischer Ebene benötigen wir frustrierende Erlebnisse mit anderen Menschen um unsere Fähigkeit zu Empathie entwickeln zu können.
Großes Trauma
Francine Shapiro, die Entwicklerin der EMDR-Therapiemethode (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) unterteilt in zwei Arten von Trauma. Das eine bezeichnet sie als großes Trauma, dazu gehören schwere Unfälle, tragische Umweltkatastrophen, Kriegserlebnisse, Vergewaltigung, Missbrauch, der Tod eines nahen Angehörigen etc. und diese brauchen in ihrem Heilungsprozess viel Aufmerksamkeit und können sich zu posttraumatischen Stressreaktionen entwickeln. Dabei wird unser Nervensystem durch einen Schockzustand verändert was sich in gesteigerter Reaktivität, Alpträumen oder auch Funktionsstörungen in bestimmten Situationen ausdrücken kann.
Kleines Trauma
Und dann gibt es das was Francine Shaipiro als kleines Trauma bezeichnet wie zum Beispiel vom großen Bruder immer wieder unterdrückt zu werden, sich vor der Schulklasse blamiert fühlen, sich von der Mutter allein gelassen fühlen, nachts aufwachen und niemand ist da, die Eltern sagen du taugst zu nichts etc. Diese Ereignisse haben oft die Tendenz, dass sie uns immer wieder geschehen und so nach dem Motto: steter Tropfen hölht den Stein, ihre Wirkung zeigen. Interessanter Weise sind es statistisch diese kleineren, wiederkehrenden traumatisierenden Erfahrungen die uns anhaltender in blockierten Zuständen und reaktiven Verhaltensmustern gefangen halten, weil sie schlicht und einfach nicht so offensichtlich als Ursachen für diese Wirkungen aufzuspüren sind.
Wie erkennen wir, dass ein Trauma in uns wirkt
Es gibt eindeutige Anzeichen von Stressreaktionen wie schwere Verwirrtheit, starke Angstzustände, Alpträume, Verzweiflung, Schlaflosigkeit, chronische Schmerzen, Bindungsunfähigkeit, starke Erschöpfung, Depression. Die Auswirkungen können jedoch auch subtiler sein wie zum Beispiel Schreckhaftigkeit, gesteigerte Erregbarkeit, kaum zur Ruhe kommen weil das autonome Nervensystem in ständiger Alarmbereitschaft ist. Unsere Reaktivität zeigt sich indem wir auf bestimmte Umstände übertrieben und nicht im angemessenen Verhältnis reagieren. Unser Körper kann wie auf Autopilot umschalten und wir haben keinen Einfluss darauf unser Verhalten zu ändern. Wir können spüren, dass unser Nervensystem unter starken Stress gerät. Wir können existenzielle Ängste erleben und uns in Notfallsituationen fühlen, die andere Menschen als harmlos bezeichnen würden, um nur einige Beispiele zu nennen.
Großes und kleines Trauma – beides hinterlässt Narben
Solche unverarbeiteten Erfahrungen hinterlassen Spuren in uns, die man als Narben bezeichnen könnte. Und ebenso wie bei physischen Narben können manche völlig abheilen und andere wiederum werden ein Leben lang bleiben. Allerdings sind diese Arten der Narben in unserem Gehirn, Emotional- und Energiekörper angesiedelt. Im Gehirn können Bereiche, die sich beim Entstehen des Traumas in Entwicklung befanden auf dem Entwicklungsstand dieses Zeitpunktes stehen bleiben. Das wird sichtbar indem unser Verhalten als Erwachsener, bei einer Situation die unseren Schmerz der in der Kindheit entstanden ist, triggert in dem Fall dann z.B. dem eines 3-jährigen Kindes entspricht. Oder wir haben ein Depot von nicht gefühlten Emotionen angesammelt, die unseren Gemütszustand trüben, zu Energieblockaden werden, weil sich in diesen Ansammlungen die Energie nicht mehr frei bewegen kann und das wiederum zu körperlichen Anspannungen, Verhärtungen und Schmerzen führen kann. Wenn solche Empfindungen dauerhaft sind, dann wird unsere Körperintelligenz diese Bereiche taub machen, damit wir nicht ständig leiden müssen. Die Kehrseite dieser Betäubung – auch schöne Empfindungen können nicht mehr wahrgenommen werden, weil der Mechanismus des Taubmachens nicht selektiv wirksam ist.
Müssen wir die Ursache für ein Trauma kennen
Ein ganz klares Nein. Vor allem bei den kleinen Traumatas ist es oft sehr schwer bewusst Auslöser dafür ausfindig zu machen und es ist auch nicht nötig. Es ist nicht wirklich wichtig das Ereignis nochmals zu durchleben, eher besteht darin die Gefahr einer Retraumatisierung. Auch wenn es einige Therapiemethoden gibt, für die das Durchleben im Mittelpunkt steht, werden diese von einigen Traumaexperten sehr kritisch betrachtet.
Wenn wir bei einer Behandlung jedoch Erinnerungen und vor allem Empfindungen im Bewusstsein des Klienten wachrufen kann ein erfahrener Therapeut dabei unterstützen, diese Erfahrungen in solchen einem Ausmaß zu halten, dass es jetzt möglich ist diese zu fühlen und zu integrieren. Ebenso wichtig ist der Aufbau von Ressourcen, die zum Zeitpunkt des Entstehens von Trauma gefehlt haben wie Erdung, Zentrierung, Unterstützung. Während der Sitzung pendeln wir dann zwischen der Erfahrung und den aufgebauten Ressourcen hin und her. Dabei wird die gebundene Lebensenergie in kleinen Schritten wieder frei gesetzt. In der Fachsprache verwendet der Traumaexperte Peter A. Levine den Begriff der Titration für diesen Vorgang.
Verantwortung übernehmen
Sobald uns etwas widerfährt wird es zu unserem. Es macht keinen Sinn nach Schuldigen zu suchen also anderen Menschen, den Umständen oder wem auch immer die Schuld zu geben. Hat uns ein Auto angefahren, ist jemand gestorben, wurden wir angegriffen, dann müssen wir zu hundert Prozent die Verantwortung für die Konsequenzen dieser Erlebnisse übernehmen und uns um den Heilungsprozess kümmern. Klar kann man Geld von der Versicherung erhalten und Hilfe von vielen Experten bekommen aber es ist unsere Verantwortung all das in die Wege zu leiten, Entscheidungen zu treffen und uns kompetente Hilfe zu holen.
Integration von Trauma
Den selben Weg den das Trauma bis in die Manifestation im Körper gegangen ist muss es auch wieder zurück gehen. Das bedeutet, dass taube Bereiche wieder empfindsam werden müssen, das kann durch Stimulierung und Berührung geschehen, was oft bedeutet, dass es erst mal weh tut. Emotionen sind alte Gefühle die zum Zeitpunkt ihres Entstehens nicht gefühlt wurden, können nur abgebaut werden indem sie gefühlt werden. Dazu bedarf es keiner Geschichten, warum, wieso und wofür sie entstanden sind. Einfach fühlen – fertig. Und die entstandenen Einbahnstraßen im Gehirn entwickeln sich letztendlich durch unser immer und immer wieder verändertes Verhalten im Alltag.
Trauma ist kein Fehler und auch keine Bestrafung
Das mag für manchen Leser, vor allem für jene, die mit Trauma zu tun haben, jetzt etwas provokant und herzlos klingen, aber ein Trauma zu erleben und zu heilen ist für unsere Entwicklung eine wichtige Erfahrung. Im Leben geht es um mehr, als dass wir es immer schön und bequem haben. Traumaexperten sind sich einig – verarbeitetes Trauma erweitert die menschliche Kapazität für Vergebung und Empathie enorm und wenn in Trauma gespeicherte Energie frei wird, kann das bei manchen Menschen zu mystischen und spirituellen, erweiterten Bewusstseinszuständen führen.
Wissenschaftliche Studien über Vererbung von Trauma
In wissenschaftlichen Experimenten hat die Forscherin Prof. Isabelle Mansuy festgestellt, dass Mäuse die traumatische Erfahrungen verarbeitet haben wesentlich resistenter sind als ihre verwöhnten Artgenossen, die immer nur unter bequemen Umständen gelebt haben. (Ein interessantes Interview zwischen Prof. Mansuy und dem spirituellen Lehrer Thomas Hübl (in englisch) gibt es auf Youtube mit dem Titel “Our Trauma as Heritage”.) In diesem Gespräch wird auch der aktuelle Stand der Forschungen mitgeteilt, was die Vererbung von Trauma auf weitere Generationen angeht. Hierzu reichen die Experimente bisher auf drei Generationen zurück und es wird deutlich, dass bis zu dieser dritten Generation hinweg traumatische Erfahrungen weiter vererbt werden. Es gibt Vermutungen, dass es sogar noch weiter geht. Das bedeutet, dass wir mit Symptomen von Trauma zu tun haben können, deren Ursache bei unseren Vorfahren liegt und außerdem, dass wir handeln müssen, wenn wir diese nicht an unsere Nachkommen weitergeben möchten.
Jenseits der Polarität von gut und böse
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, wir brauchen uns nicht aktiv um traumatische Erfahrungen zu bemühen, aber wenn sie uns widerfahren dann können wir sie als Einladung zu Wachstum verstehen. Denn in unserer Entwicklung als Mensch kommen wir mit einem wenig ausgebildeten Nervensystem zur Welt und gewisse Erfahrungen trainieren es sozusagen und helfen uns dabei ein uns entsprechendes Wertesystem zu entwickeln. Wenn es uns gelingt unser Trauma gut zu integrieren können wir den Wert von positiven und negativen Erfahrungen erkennen und diese sich als einander bedingende Prinzipien zu verstehen beginnen. Außerdem erhalten wir Lektionen in Loslassen und Vergebung was eine wichtige Grundvoraussetzung zur Entwicklung von Mitgefühl ist. Wir können erkennen dass Liebe heilsam ist und dass man mitfühlendes Verständnis als “Liebe in Aktion” bezeichnen könnte.
Trauma – ein simpler Zugang zur Spiritualität
Wenn wir beginnen die unangenehmen Empfindungen in unserem Körper zu fühlen können wir oft auch erkennen, dass mehr Raum entsteht und wir eine Art von “flow” Energiefluss und Wärme wahrnehmen können. Ebenso kann die Tatsache, dass wir diesen schmerzhaften oder tauben Bereichen in unserem Körper mit jemand anderem gemeinsam begegnen unser Gefühl von Verbundenheit stärken.
In vielen spirituellen Traditionen haben die Tore zur Erleuchtung mit Hingabe zu tun. Und oft wird von vier solcher Tore gesprochen. Die erste Art solch ein Tor zu erreichen ist durch ekstatische Sexualität, die zweite Art ist durch langjährige Meditationspraxis, die dritte ist durch Tod, wenn wir uns diesem Geschehen hingeben können und die vierte Möglichkeit Erleuchtung zu erlangen ist Trauma. Dies kann geschehen wenn wir uns den Körperempfindungen und Gefühlen bedingungslos hingeben. Unter Hingabe verstehen wir alles komplett zu erfahren wie es sich in diesem Moment entfaltet, ohne es zu bewerten. Das gilt für Körperempfindungen jeder Art, ob es Schmerz, Anspannung, Taubheit, Weichheit, Ausdehnung, was auch immer ist und ebenso für alle Arten von Gefühle, wie Angst, Wut, Trauer, Scham, Schuld etc. Je mehr wir uns dem augenblicklichen Erleben bedingungslos hingeben, ja, ergeben können, desto mehr werden wir mit Gnade beschenkt.